Für Toleranz


»Diese Worte versetzten die Mitglieder des Gerichtshofes in maßlose Wut, und sie beschlossen, die Apostel töten zu lassen. Da stand Gamaliel auf, ein Pharisäer und hochangesehener Schriftgelehrter. Er ließ die Apostel für kurze Zeit hinausbringen; dann wandte er sich an die Gerichtsversammlung: "Ihr Männer von Israel, seid vorsichtig und überlegt euch genau, was ihr gegen diese Leute unternehmt. Schon früher glaubten manche Männer, etwas Besonderes zu sein, wie Theudas zum Beispiel. Etwa vierhundert Männer konnte er als Anhänger gewinnen. Aber er wurde getötet, und von seinen Leuten ist keiner mehr zu finden. Niemand spricht mehr von ihnen. Zur Zeit der Volkszählung unternahm Judas aus Galiläa einen Aufstand. Viele Leute schlossen sich ihm an. Aber auch er kam um, und von seiner Bewegung spricht kein Mensch mehr. Deshalb rate ich euch: Lasst diese Männer in Ruhe! Wenn es ihre eigenen Ideen und Taten sind, für die sie sich einsetzen, werden sie scheitern. Steht aber Gott dahinter, könnt ihr ohnehin nichts dagegen unternehmen. Oder wollt ihr gegen Gott kämpfen?"«

Apostelgeschichte, Kapitel 5, Verse 33-39, nach der Übersetzung "Hoffnung für alle"


Es wäre zu schön, hätte sich Gamaliel wirklich durchgesetzt. Zumindest wendete er die Hinrichtung der Apostel ab. So steht im nächsten Vers:

»Das überzeugte alle. Man rief die Apostel wieder herein, ließ sie auspeitschen und verbot ihnen noch einmal, von Jesus zu reden. Dann wurden sie freigelassen.«

Von echter Toleranz kann hier keine Rede sein. Trotzdem hatten die Apostel noch Glück: Jesus wurde gekreuzigt, weil er verkündete der Christus zu sein, katholische Christen töteten andere Christen, weil diese zur Reformation der Kirche aufriefen, evangelische Reformatoren töteten christliche Täufer, Calvin ließ Servetus ermorden, Zwingli Felix Manz und so weiter - immer mit dem Argument, man bräuchte nicht tolerant zu sein, man sei ja schließlich auf der Seite der Wahrheit und müsse die armen Menschen vor der Lüge schützen. So schreibt Calvin:

»Es irren sich viele, die über Gamaliel sprechen, als ob man sich an seine Autorität halten müßte. Gamaliels Rat war, dass die Schriftgelehrten und Priester die Apostel nicht verfolgen sollten. Er sagte: Wenn ihre Lehre göttlich sei, könne nichts sie aufhalten; sei sie aber Menschenwerk, so werde sie von selbst vergehen. Wenn man so etwas unüberlegt sagt, so scheint es, als wolle man nicht bloß die öffentliche Ordnung auflösen, sondern auch die Kirchenzucht zerbrechen. In Wirklichkeit kommt es auf die Person an, die so etwas sagt. Denn Gamaliel war im Zweifel (...)«

Jean Calvin in Defensio 472-473/38


Und Calvin „wusste“ schließlich, dass er im Recht war:

»wenn Bösewichter versuchen, die Fundamente der Religion zu ruinieren, schreckliche Gotteslästerungen hervorstoßen und verdammenswürdige Thesen ausstreuen (...), kurz: Das Volk zu Rebellion gegen die reine Lehre Gottes aufstacheln, dann muß man zum letzten Mittel greifen.«

Jean Calvin in Defensio 477/49


Denn wer sich der absoluten Wahrheit sicher ist, mordet schließlich aus „Menschenliebe“:

»Eine Humanität, die diejenigen schätzen, die Pardon für die Häretiker wünschen, ist mehr als grausam: Denn um die Wölfe zu schonen, setzen sie die armen Schafe zur Beute aus.«

Jean Calvin in Defensio 471/35


Erinnern wir uns:

»Früher oder später wird die Wikipedia Menschenleben kosten und eigentlich ist das schon jetzt der Fall, denn den Glauben eines Menschen beschädigen oder vernichten zu wollen, ist viel ärger als das Töten des Leibes.(...) --LastHero 10:14, 5. Feb. 2008 (CET)«

Aber wieso sollte sich der Glaube beschädigen oder vernichten lassen? Die große Gefahr, die vom Häretiker ausgeht, ist, dass er aus den eigenen Reihen kommt. Der Anhänger einer anderen Religion ist harmlos, er kennt nicht die Wahrheit, wurde nie mit dem reinsten geoffenbarten Gotteswort konfrontiert. Würde er die Offenbarung lesen, sich darauf einlassen, ihr vertrauen, er wäre im Nu von ihrer Tiefe, Kraft und Weisheit für immer überzeugt. Sein Unglaube ist nichts anderes als der tragische Umstand, dass er die Wahrheit eben noch nicht kennt. Denn die Wahrheit der Offenbarung überzeugt doch jeden. Aber wie kann es dann sein, dass jemand die Offenbarung gelesen hat, sie glaubte, ihr vertraute – über Jahrzehnte – und schließlich trotzdem zu der Überzeugung kam, sie sei nicht von Gott? Da die Ursache nicht in der Offenbarung liegen kann, da sie nicht in der Offenbarung liegen darf, muss sie wohl in dem Häretiker zu finden sein, der offenbar wider besseren Wissens die Offenbarung in Zweifel zieht um die Menschen in die Hölle gehen zu lassen. Der Häretiker will also offenbar die Menschen gar nicht zum Nachdenken bringen, er will sie in die Hölle bringen. Und gegen so jemanden ist dann doch jedes Mittel erlaubt – oder?

Umgekehrt könnten Kritiker der Neuoffenbarung auf die Idee kommen, Neuoffenbarungsfreunde selbst zu bekämpfen, schließlich fielen ihnen ja bereits Menschen zum Opfer. Doch was können gute, liebende Eltern, die an die Neuoffenbarung glauben dafür, wenn andere ihre Kinder verhungern lassen? Was können tolerante Neuoffenbarungsfreunde dafür, wenn im Namen der Neuoffenbarung Rassenhass und Intoleranz gepredigt werden? Was können Mitglieder eines Lorberkreises dafür, wenn die Leiter ihre Schäfchen psychisch misshandeln?

Niemals darf aufgrund von Glaubensansichten irgend jemand verfolgt oder Gewalt ausgesetzt werden. Zu viele Menschen haben bereits unter religiöser Intoleranz gelitten. Katholiken, Protestanten, Baptisten, sie alle können inzwischen nebeneinander leben und sich tolerieren, trotz aller Differenzen. Die blutigen Exzesse der Vergangenheit sprechen heute eher gegen die Täter, als für deren Thesen. Sie haben noch nie Zweifel beseitigt, wohl aber Zweifel geschürt.

Wie also umgehen mit Anhängern der Neuoffenbarung? Wie umgehen mit Kritikern eines vielleicht göttlichen Werkes? Darf man den Kritiker zu Wort kommen lassen, wenn er dadurch das Seelenheil seiner Zuhörer gefährdet? Man darf es nicht nur, man muss es sogar. Beide Seiten müssen ihre Sichtweise darstellen können. Nur so kann sich jeder ein Bild machen. Denn wir können ja letztlich nie sicher sein, wer der Prophet ist, wer der Aufklärer und wer der Häretiker. Wir sind alle nur unwissende, fehlbare Menschen.


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