Eigene Erfahrungen mit Jakob Lorber und der Neuoffenbarung


Von Kindesbeinen an wusste ich, dass ich mit meinem Wissen über die Neuoffenbarung nicht hausieren gehen soll. Ich lernte, dass dieses Wissen ein besonderes Privileg darstelle, aber nicht alle Menschen so weit seien und es deshalb nicht verstehen könnten. Die Welt war winzig, das Leben als Frau vorgezeichnet, der Alltag durch „göttliche“ Lehren und Weisungen reglementiert. Kleidung, Musik, Ernährung – meist war das Alte richtig und das Moderne verdorben, weshalb man auch soweit wie möglich von der Außenwelt ferngehalten wurde. Einzig die Neuoffenbarung stellte einen gewissen „Reichtum“ dar und wie meine Eltern nahm ich sie sehr ernst. So hörte ich mir später im Religionsunterricht oft Geschichten an, die ich viel besser zu kennen glaubte. Das Problem war oft nur, dass ich nicht genau wusste, wo Bibel aufhört und die Neuoffenbarung anfängt. So hielt ich mich zurück und lernte, mit dieser Halbwahrheit zu leben: "Ich glaube der Bibel" – und weiß es eigentlich besser.

Als Teenager lernte ich eine Jugendgruppe der evangelischen Kirche im Nachbarort kennen, die auch offen für Jugendliche anderer Konfessionen war. Sie entstand letztlich aus einer Konfirmationsgruppe, die weitermachen wollte. Zuerst ging ich dahin, weil „christlich sein“ ja gut war. Ich fühlte mich dort sehr wohl, wir lasen miteinander in der Bibel, sangen und beteten gemeinsam, planten Aktionen und verbrachten viel Zeit miteinander (Kino, Grillen, ...). Nur etwas irritierte mich. Jesus war anders als ich es kannte.

Zwar soll Jesus die Offenbarungen Lorber persönlich diktiert haben, und es wird auch ständig von Liebe geredet, aber gespürt habe ich sie beim Lesen nicht. In Lorbers Erzählungen sind die Menschen oft tief ergriffen vor Liebe zu Jesus und lassen sich in endlosen Monologen darüber aus. Aber mit mir und meinem Leben hatte das nichts zu tun. Auch wenn man seitenweise über Liebe in Superlativen liest, ändert das nichts daran, dass man sich laut Lorber diese Liebe verdienen muss. Und dass man sich bemühen muss, zumindest "zur Hälfte" wiedergeboren zu sein, in dem endlosen „niederen“ Weg als "werdender Christ" in der schweren „Erdenschule“. Dass sich Jesus aus Liebe zu uns Menschen kreuzigen ließ, kannte ich. Nur konnte ich mit dieser Aussage nichts anfangen. „Es ist vollbracht“ galt schließlich nur für „Jesus“ selbst, nicht für mich.

Es gibt in den Jenseits-Berichten auch Szenen von Menschen, die in den von ihnen angebeteten Gottheiten Jesus erkennen. Als ich deshalb einmal in der Jugendgruppe nachhakte, ob nicht ein Mensch aus einer anderen Religion durch religiöses Streben erlöst werden kann, kam aus dem Kreis sehr bestimmt, dass Jesus der Weg ist und nur er retten kann. Diese Einschränkung verwirrte mich. Ging es in der Neuoffenbarung um die Opferbereitschaft des Menschen für Gott, ging es hier auf einmal um die Opferbereitschaft Gottes für mich.

Durch die vielen Gespräche mit meinen neuen Freunden, die nichts von meinem Neuoffenbarungshintergrund wussten, lernte ich Gott ganz anders kennen. Den Himmel kann man sich nicht verdienen, denn die Trennung von Gott, die ich nicht überbrücken kann, bleibt. Und Jesu Liebe braucht man sich nicht zu verdienen, er liebte mich schon bevor ich geboren wurde: Jesus ist meinen Tod, den ich eigentlich verdient hätte, gestorben, damit ich leben kann. Und jetzt hält er mir die Hand hin und bietet mir an: "Gib mir dein bisheriges Leben, und du bekommst von mir ewiges Leben. Vertrau mir, ich mache das Beste daraus."

Endlich hatte ich verstanden, was das „Evangelium“, zu deutsch "Frohe Botschaft", ist. Zehn dicke Bücher von Lorber heißen "großes Evangelium", aber in keinem habe ich erfahren, was daran froh oder freimachend sein sollte. Ich dachte sogar als Kind, "Evangelium" sei ein anderes Wort für langatmige Belehrungen.

Aber noch immer wagte ich nicht, Gott einfach zu vertrauen – ich wusste ja nicht, was er mit meinem Leben vorhatte. Denn das bisherige Leben mit Neuoffenbarungen lehrte mich, dass Gottes Wille eigentlich immer gegen den eigenen Wunsch geht, und dass das, was mir Spaß macht, meist schlecht ist. In dieser Zeit wurde mir dann auch noch von einem Gemeindeleiter vorgeworfen, ich entwickle ein falsches Gottesbild, wenn ich glaubte, ich könne als wirklich ernsthafter „werdender Christ“ so einfach leben, wie die jungen Leute, aus der evangelischen Jugendgruppe. So gestand ich Gott meine Angst, dass mein Leben eine Quälerei wird, wenn ich ihm vertraute. Doch ich erlebte es schließlich ganz anders. Jesus redete nicht mehr ständig von Liebe, er ließ mich seine Fürsorge erleben - auch heute noch.

Wie jeder andere Christ wollte auch ich getauft sein. Und ich erkannte in der Taufe die Möglichkeit, mich von dem, was mir noch aus meinem alten Leben anhängt loszusagen und mich öffentlich zu Jesus zu stellen. Ich hatte bereits alle Neuoffenbarungsbücher, die mich so lange belasteten, entsorgt, aber es quälten mich oft noch Gedanken daraus.

Durch verschiedene Umstände musste ich noch ein halbes Jahr auf meine Taufe warten. Früher glaubte ich, Anfechtung sei ein frommes Wort für: "Mir geht’s heute nicht so gut", bis ich sie dann selbst erlebte. Es war mir, als würde mit allen Mitteln versucht, mich von dieser Taufe abzuhalten. Man kann schwer beschreiben, was da passierte. Es waren hauptsächlich innere Spannungen, aber auch äußere Widrigkeiten, die sich auffällig häuften. Dazu wöchentliche Migräneattacken, die mehrere Tage andauerten (ich hatte bis dahin noch nie Migräne, und nach der Taufe hörte sie auch schlagartig auf). Schon vorher, an dem Tag als ich mich entschloss, nun endlich offen über die Neuoffenbarung zu reden (Mt 10,26ff), wurde versucht, uns etwas anzuhängen. Mein Mann war ratlos, aber mir war klar, dass „jemand“ nicht will, dass wir mit anderen über das Problem "Neuoffenbarung" sprechen. Vielmehr sollten wir alles weiterhin stillschweigend auf sich beruhen lassen. Spätestens seit dieser Zeit weiß ich, dass das Böse genauso real ist wie Gott. Aber Gott ist stärker.

Irgendwie überstand ich das halbe Jahr bis zur Taufe. Schließlich stand ich vor den Kirchenbesuchern um zu sagen, warum ich mich taufen lassen will. Ich wollte es sagen, aber es war, als würde mir von hinten der Mund zugehalten werden. Ich wollte öffentlich – vor der sichtbaren und unsichtbaren Welt – festlegen, dass Jesus der alleinige Herr über mein Leben ist, aber es wurde ein Kampf. "Etwas" wollte das nicht zulassen. "Etwas", das ich nicht sehen konnte. "Etwas" - oder "Jemand", der mich schon das letzte halbe Jahr von der Taufe abhalten wollte und nun seine letzte Chance witterte. Und mir wurde schlagartig klar, dass ich jetzt nicht nachgeben durfte. Ich begann, den Spickzettel, den ich mir geschrieben hatte, Wort für Wort vorzulesen. Innerlich schrie ich Jesus um Hilfe und Kraft an, dass ich das hier und jetzt endlich hinter mir lassen kann – und er half mir. Als ich aus dem Wasser stieg, fühlte ich mich trotz der nassen Kleider viel leichter als vorher. Ich konnte in vielerlei Hinsicht durch diesen öffentlichen Bruch mit der Neuoffenbarung neu anfangen. Es war eine unbeschreibliche Befreiung.

Durch die Distanzierung von Lorbers Werk habe ich über die Jahre letztlich nicht nur viele Freunde gefunden, sondern auch Freunde aus meiner Kindheit verloren. Viele aus meinem früheren Umfeld konnten nicht verstehen, wie man ein in ihren Augen so vollkommenes Werk verwerfen kann. Ich begann schließlich die Gründe für meine Entscheidung erst einmal für mich selbst und schließlich auch für andere zu sortieren und zu strukturieren. Manche Kritikpunkte ergaben sich erst bei der erneuten Beschäftigung mit der Neuoffenbarung und beim Vergleich unterschiedlicher Ausgaben. Früher war es undenkbar, die Neuoffenbarung offen in Frage zu stellen. Wenn man davon ausgeht, dass die Neuoffenbarung direkt von Gott diktiert wurde, sucht man die Ursachen für die Widersprüche und Abgründe in der Neuoffenbarung immer bei sich selbst. Viele meiner früheren Freunde hatten und haben solche Probleme nicht, da sie die Neuoffenbarung kaum kennen. So wie es Kirchengänger gibt, die die Bibel als Gottes Wort ansehen, jedoch kaum jemals selbst in der Bibel gelesen haben, gibt es auch Anhänger der Neuoffenbarung von Jakob Lorber, die die Neuoffenbarung nicht lesen. Selbst eine Umfrage unter Mitgliedern der Österreichischen Jakob-Lorber-Gesellschaft, die die Verbreitung des Gedankenguts von Jakob Lorber als Ziel hat, ergab, dass sechs von 54 befragten Mitgliedern kein einziges Werk von Jakob Lorber gelesen haben (vgl. Rinnerthaler S. 198). Die diffuse Vorstellung von den Inhalten der Neuoffenbarung (auch vermittelt durch Sekundärliteratur, Vorträge oder „Gemeinden“) wird dann oft überlagert von traditionell humanistisch-christlichen oder esoterischen Lehren. Auch wenn Antisemitismus in manchen Neuoffenbarungsgruppen heute noch latent vorhanden ist (vgl. Daxner S. 204 und 222f), Kinder im Sinne von Lorber erzogen oder „Gesundheitsratschläge“ befolgt werden: Kaum ein Anhänger der Neuoffenbarung setzt diese komplett in seinem Leben um – gewöhnlich handelt es sich immer um eine Auswahl von Passagen, die wahrgenommen werden. Trotzdem gibt es kritische Tendenzen bei der Wirkung der Neuoffenbarung, die von der Bibel nicht korrigiert werden können, da Lorberfreunde im Zweifelsfall die Neuoffenbarung der Bibel vorziehen (vgl. auch Rinnerthaler S. 234):

  1. Christen, die an die Neuoffenbarung glauben, grenzen sich innerlich von anderen Christen ab oder belügen sie, um mit ihnen zusammenzuarbeiten oder in einer Gemeinde leben zu können. Einer offenen Diskussion über die Neuoffenbarung wird ausgewichen.
  2. Menschen aus dem Esoterikbereich übersehen aufgrund des Werkes oft, dass es eben nicht um ein Geheimwissen geht, sondern um die Beziehung zu den Mitmenschen und zu Gott.
  3. Missionsarbeit wird verneint mit dem Verweis auf die Warnungen Lorbers.
  4. Manche Anhänger, die es besonders ernst nehmen, ordnen sich einer Leidensmystik unter, derzufolge ihr eigener Wille und der ihrer Angehörigen und Kinder gebrochen werden müsse und sie sich permanent erniedrigen müssten um wenigstens zur Hälfte wiedergeboren zu werden.
  5. Da die Neuoffenbarung grundsätzlich nicht abgeschlossen ist, treten aus ihrer Tradition immer wieder Träger des „inneren Wortes“ auf, die Kreise, Gruppen und Gemeinden gründen, in denen sich Gehirnwäsche, Einschüchterung und psychischer Druck etablieren. Aufgrund der „göttlichen“ Autorität jeder tagesaktuellen „Offenbarung“ sind Korrekturen nicht mehr möglich, selbst wenn der Verkünder des „Inneren Wortes“ sich ansonsten demütig gibt.
Dabei sind längst noch nicht alle Abgründe der Neuoffenbarung und der aus ihr hervorgehenden Glaubensgemeinschaften ausgelotet. Auch diese Zusammenstellung von Erlebnissen ist weder abgeschlossen noch vollständig. Aber vielleicht kann sie eine Hilfe sein, wenn Menschen fragen, welche Rolle die Neuoffenbarung für ihr Leben, das Leben ihrer Kinder oder das Leben innerhalb ihrer Gemeinde spielen soll – denn schließlich kann man auch ohne Neuoffenbarung nach Gottes Willen leben.


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